Das Tüötten-Wesen
Von Bauern zu Wanderhändlern
2021 schloss die letzte Kohlenzeche. Eine schlechte Nachricht für Mettingen, sollte man meinen. Aber der Kämmerer wirkt entspannt. Er spricht viel von der Konditorei Coppenrath und Wiese. Sie beschäftigt fast 3000 Menschen im Ort und trägt damit zu einer der niedrigsten Arbeitslosenquoten in Nordrhein-Westfalen bei. So geht zwar eine 500 Jahre alte Bergbau-Tradition zu Ende, aber kaum einer merkt es – ungewöhnlich für das Bundesland. Für die Brenninkmeijers könnte die Stilllegung sogar eine gute Nachricht sein. Nach dem Ende des Bergbaus wird der Brenninkmeyer Hof in Mettingen-Wiehe vielleicht wieder bewohnbar.
Seit dem Dreißigjährigen Krieg hatten sie ihn als Bauern bewirtschaftet. Sie standen zwar nicht auf der untersten sozialen Stufe wie ihre Landarbeiter, arm waren sie trotzdem. Ihr Leben verdienten sie sich als Torfstecher und Grasschneider in den 60 Kilometer entfernten Niederlanden, wo ihre holländischen Arbeitgeber auf ihre Kleidung aufmerksam wurden. Sie bestand aus selbstgewebtem Leinen. Der Stoff erwies sich als strapazierfähig und angenehm zu tragen. Davon wollten die Niederländer gern etwas haben. Die Mettinger Bauernsöhne machten ein Geschäft daraus. Sie wurden zu Wanderhändlern, wurden Tüötten genannt, die Leinen verkauften. Zu Recht werden diese „‚Hollandgänger“ als erste Vermittler eines beginnenden Hausierhandels bezeichnet, der sich in den folgenden Jahrhunderten über ganz Nordholland, Norddeutschland, Brandenburg, Mecklenburg, Pommern, ja sogar bis Helsinki und Nowgorod ausdehnte.
Den Flachs bauten sie auf ihren Feldern an. Die Webstühle standen in ihren Häusern. 1887 hatten Familien von 58 Kaufleuten ihren Wohnsitz in Mettingen. Mettinger Tüötten Familien wie die Brenninkmeyers, Hettlages, Voßs, Boeckers, Moormanns, ten Brinkens und Lampes stiegen in den Handel ein und gründeten später Kaufhäuser. Stockmann schlug den Weg gen Norden ein, nach Helsinki. Das größte Warenhaus Finnlands trägt noch heute seinen Namen.
Bei aller Weltoffenheit waren die wandernden Kaufleute von einer tiefen Religiosität und Liebe zu ihrer Heimat geprägt, in der sie ihre Frauen und heranwachsenden Kinder zurücklassen mussten. Die Tüöttenfrauen waren der große Rückhalt des umherziehenden Handelsmannes; Bestellung von Haus und Hof, Erziehung der Kinder und Leinenherstellung, alles lag in ihrer Hand. Das waren Gründe, die sicher dazu führten, dass die Tüötten auch nach Niederlassung in ihren Handelsgebieten nie den Kontakt zur Heimat verloren. Zur Tradition gehörte es, im Alter nach Mettingen zurückzukehren, um die alten Tage hier zu beschließen.
Mit Beginn der Industrialisierung, insbesondere in der Textilherstellung, nahm das Tüöttenwesen sein Ende. Viele der Niederlassungen in Ost und West waren jedoch der Beginn und Grundlage heute berühmter Handelshäuser, die sich über ganz Europa und sogar Amerika erstrecken. Mettingen war und blieb aber Ursprung dieser weitsichtigen Handelsmänner, die ihren Heimatort auf das vielfältigste förderten, sei es im kirchlichen, schulischen oder karitativen Bereich. Ihre Spuren finden wir in Form gediegener, aber stilvoller Villen, die auch heute noch zum Teil die parkähnliche Landschaft Mettingens prägen.